Die dunklen Seiten der Psychiatrie
Das Wuchern der Tapete: Mona Petri bringt einen Schlüsseltext der feministischen Moderne auf die Bühne – ein Balanceakt mit historischer Patina.
Psychische Krankheiten, Krisen und Erschütterungen gehören zum Leben, und das Theater hat sich schon immer dafür interessiert. Doch die Bühne ist ein gefährlicher Ort: Was hier verhandelt wird, droht immer auch zum Spektakel zu werden; wer hier auftritt, wird schnell vorgeführt. Wie aber können Betroffene zu Wort kommen, ohne dass sie objektifiziert werden? Um diese Frage kreist «Ohne Norden» der Theatergruppe Recycled Illusions.
Als Grundlage dient die autobiografisch inspirierte Kurzgeschichte «Die gelbe Tapete» der US-Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman aus dem Jahr 1892. Sie erzählt von einer Frau, die von ihrem Mann in ein Zimmer eingesperrt wird, um sich «zu erholen». Zwar wird ihr gesagt, sie sei nicht krank, dennoch wird ihr Ruhe verordnet. Insbesondere ist es ihr verboten zu schreiben. Doch als Schriftstellerin hat sie ein dringendes Bedürfnis, das, was sie erlebt, in Sprache zu fassen. Die Sprachlosigkeit treibt sie schliesslich in den Wahnsinn.
Die Hierarchie macht krank
Perkins Gilman beschreibt damit auf wenigen Seiten die Lage der Frauen im späten 19. Jahrhundert: Mithilfe von medizinischen Argumenten schloss man Frauen aus dem öffentlichen Leben aus, durch die Pathologisierung sprach man ihnen jede Glaubwürdigkeit ab. Doch das Problem, das hier anklingt, geht viel tiefer: Tatsächlich ist die Psychiatrie – und überhaupt die Medizin – geprägt von einer strengen Hierarchie zwischen Patient:in und Expert:in. Dass die Objektifizierung von Betroffenen, die damit einhergeht, psychische Krankheiten wie Hysterie und Formen von Depression überhaupt erst ausgelöst hat, statt sie zu kurieren: Das gehört zu den vielen dunklen Kapiteln der Psychiatriegeschichte.
Recycled Illusions inszeniert Perkins’ Text als Monolog und belässt ihm die historische Patina. Mona Petri spielt im weissen Spitzennachthemd auf einer Bühne, auf der es nur ein Bett und einen grossen weissen Vorhang gibt. Visuell erinnert es an die ikonischen Fotos, die der Psychiater Jean-Martin Charcot im 19. Jahrhundert von «Hysterikerinnen» machte. Petris Spiel ist dramatisch, es stellt sich als Kunst aus und verweigert jeden Naturalismus. Das ist gut, denn auch wenn sich die Figur als «Charlotte Perkins Gilman» vorstellt, geht es hier doch mehr um die modellhafte Darstellung einer Krise als um den konkreten historischen Fall.
Das leicht überhöhte Spiel steht zudem im interessanten Kontrast zu den dokumentarischen Elementen. Denn die dramatische Vorstellung der wahnsinnigen Frau wird immer wieder durch Stimmen aus der Gegenwart unterbrochen. Amanda, Patrick, Lydie, Mercedes, Daniel, Sandra und Jörg berichten von ihren persönlichen Leidenswegen, aber auch davon, wie sie einen selbstbestimmten Umgang mit ihren Krisen oder chronischen Krankheiten gefunden haben. Das ist teilweise grossartig, aber auch ein Balanceakt. Denn es wird deutlich, wie schnell sich auf der Bühne jene Objektifizierung wiederholt, auf die wir eingespielt sind. Immer wieder muss man sich fragen, ob die Betroffenen nicht doch vorgeführt werden, ob sie vor allem den Stoff liefern, an dem sich ein kunstmüdes Publikum emotional bereichert.
Doch Recycled Illusions weicht dieser Gefahr nicht aus, sondern geht bewusst damit um: Jede Aufführung von «Ohne Norden» wird durch eine anschliessende Podiumsdiskussion ergänzt, in der Betroffene, Expert:innen und betroffene Expert:innen über den Umgang unserer Gesellschaft mit psychischer Krankheit sprechen. Und wo sich auch das Publikum einbringen kann. Bei der Premiere im Neuen Theater Dornach hatte denn auch eine Zuschauerin das letzte Wort: Es sei wichtig, darüber zu sprechen, wie innerhalb der Psychiatrie mit psychischen Krankheiten und Betroffenen umgegangen werde, sagte sie. Denn leider sei es auch heute so, dass nicht nur «die Gesellschaft», sondern auch Fachleute oft nicht in der Lage seien, psychisch Kranken auf Augenhöhe zu begegnen. Sie sei selbst Fachperson, doch seit sie eine schwere psychische Krise durchgemacht habe, sei sie im beruflichen Umfeld stigmatisiert und werde nur noch als Kranke, nicht mehr als Expertin betrachtet. Die eigene Erfahrung werde nicht als wertvolle Form von Wissen anerkannt.
Noch ist es ein weiter Weg
Damit verbindet die Zuschauerin das Bühnenstück mit dem Hier und Jetzt der Anwesenden, und es ist diese kluge Kombination von Kunst und Gespräch, die den Abend so überzeugend macht. Denn «Ohne Norden» zeigt zweierlei: erstens, dass Theater ein Ort des gemeinsamen Lernens sein kann. Und zweitens, dass noch ein weiter Weg zu gehen ist. Das wurde auch bei der Podiumsdiskussion deutlich. Schnell rutschte der Mediziner in die Rolle des objektiven Erklärers und bestimmte die Stossrichtung, während die Aussagen des Betroffenen jedes Mal mit einem emotionalen Applaus vom Publikum belohnt wurden, ganz so, als wäre er auf diese Gunst angewiesen. Um diese Muster zu überwinden, braucht es noch viele solche Projekte, die wir diskutieren, kritisieren und von denen wir uns bewegen lassen können.