29. April 2021

WOZJournalismus

Christoph Ransmayr zeigt mit seinem neuen Buch «Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten» eindrücklich, was Fiktion sein kann: Strömungsumkehr, Bedenkzeit, Möglichkeitsraum.

Jedes Jahr im Juni ereignet sich in Kambodscha ein Phänomen, das die Naturgesetze scheinbar ausser Kraft setzt: Der riesige Fluss Tonle Sap, der in Phnom Penh in den Mekong mündet, ändert seine Richtung und fliesst – zurück! Anstatt weiter ins Chinesische Meer zu strömen, drängt das Wasser in Richtung seiner Quellen. Diese «aller Logik widersprechende Tatsache» ist wie geschaffen für den literarischen Kosmos von Christoph Ransmayr. Denn die fiktiven Welten, die Ransmayr in seinen Romanen entwirft, bringen stets vertraute Ordnungen durcheinander.
 

Ein zersplittertes Europa

In seinem neuen Roman «Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten» greift Ransmayr die reale Strömungsumkehr des Tonle Sap auf und entwickelt daraus eine faszinierende Geschichte nicht nur über das Töten, sondern auch über das Erzählen. Der Fluss, der zur Quelle zurückfliesst, wird zum Sinnbild eines gefährlichen Begehrens und einer aus den Fugen geratenen Welt. Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft: Europa ist in «Grafschaften, Stammesgebiete und Zwergstaaten» zersplittert, die sich in nationalistischem Eifer bekämpfen. Die wertvollste Ressource, das Wasser, ist knapp und wird von einem global agierenden Wassersyndikat kontrolliert. Wasserkriege, Bürgerkriege und die Überwachungstechnologien des Syndikats bestimmen die Welt.
 

Ransmayr beschreibt zwar eine Zukunft, doch er tut es mit archaisch anmutenden Mitteln. Er erzählt wie immer eine abenteuerliche Heldenreise, die mythische Qualität hat und die um die grossen Themen des Daseins kreist: Macht und Verbot, Liebe und Inzest, Mutter, Vater, Leben und Tod und den unaufhaltsamen Lauf der Zeit, der das menschliche Leben bestimmt – und über den einzig das Erzählen triumphiert.
 

Die Hauptfigur ist ein moderner Ödipus, der seinen verschwundenen Vater töten will, weil er ihn für einen Mörder hält. «Mein Vater hat fünf Menschen getötet», behauptet er gleich im ersten Satz. Doch die Reise führt ihn zur Aufdeckung seiner eigenen Schuld. Keine Angst, das ist kein Spoiler! Denn obwohl sich der Roman streckenweise wie ein Krimi liest, geht es nicht darum, wer wen auf welche Weise umgebracht hat. Sondern darum, warum der Mensch überhaupt zum Mörder wird. Ist es, wie Freud in seiner Ödipus-Interpretation vorschlägt, das Begehren nach der Mutter, das jeden Mann zum potenziellen Vatermörder macht?
 

Ransmayr gibt antikem Mythos wie psychoanalytischer Deutung eine neue Wendung. Das Verbrechen, das die Welt des Romans in eine Hölle verwandelt, ist nicht die Mutterliebe, sondern die Vergangenheitsbesessenheit. Die Idee vom Ursprung ist zwar eine Schimäre, ist von Verklärung und narzisstischem Wunschdenken bestimmt, aber sie regiert die politische Landschaft genauso wie die Geschicke der Hauptfiguren. Während einer Bootsfahrt auf dem Tonle Sap glaubt der Held, die Tat seines Vaters zu verstehen. Der hatte in seiner Funktion als Schleusenwart – oder eben «Fallmeister» – einer historischen Anlage einen Unfall verursacht, bei dem fünf Besucher ertrunken waren. Der Held glaubt, dass sein Vater die Schleuse absichtlich im falschen Moment geöffnet hatte, um jene Macht über Leben und Tod zu erleben, die ein Fallmeister früher, als es noch echte Fallmeister gab, innehatte. «Mein Vater wollte sich mit diesem Verbrechen offensichtlich zurückversetzen, gegen den Lauf der Zeit zurück in masslose Träume, in denen ein Fallmeister mehr, viel mehr und einflussreicher gewesen war, als es der Kurator eines Freilichtmuseums am Weissen Fluss jemals werden konnte.» Auch dem Helden selbst wird der Versuch, die idealisierte Vergangenheit wiederherzustellen, zum Verhängnis.

Christoph Ransmayr, der grosse Mythomane, hat ein Rezept gegen diesen tödlichen Wahn nach vergangener Macht und Grösse: Literatur. Zwar ist auch die Geschichte des Romans rückwärtsgewandt, beschwört Figuren und Motive aus alten Quellen. Doch Ransmayrs Poetik ist weit weg von jedem Realismus und jedem politischen Programm. «Geschichten ereignen sich nicht. Geschichten werden erzählt», schreibt er 2013 im Vorwort von «Atlas eines ängstlichen Mannes». Geschichten sind menschliche Konstrukte und deshalb nur lose mit der realen Welt verbunden. Sie bestehen ausschliesslich aus Sprache. «Wovon immer er spricht – in seiner Geschichte, in seiner Sprache muss der Erzähler alle Welt noch einmal erfinden, noch einmal und immer wieder erschaffen», heisst es im Essay «Die Erfindung der Welt» (1997), einem der wenigen Texte, in denen Ransmayr über sein Schreiben Auskunft gibt.
 

Das Bezeichnende dieser erfundenen Welt: Sie hat nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende. Mit dem letzten Satz einer Geschichte schafft der Schriftsteller einen «Ausgang», durch den er selbst «aus seiner Geschichte heraustreten und zurückkehren muss an die Ränder der Welt». Wenn Literatur sich dem natürlichen Fluss der Zeit widersetzt, so tut sie das nur für eine bestimmte Dauer. Genau wie der Tonle Sap, der nach der Strömungsumkehr, «wie zur Besinnung gekommen, seinen Lauf abermals umkehrte und sich von seinen Quellen, seiner Vergangenheit ab- und doch wieder dem Meer und seiner Auflösung zuwandte».
 

Dennoch ist die Strömungsumkehr nicht nur ein Spiel der Natur, das folgenlos bliebe. Im Gegenteil. Das Wasser, das stromaufwärts drängt und einen grossen Teil des Landes flutet, hat überhaupt erst die Bedingungen für kulturelle Entwicklung geschaffen: «Ohne den fruchtbaren Schlamm dieser Flut konnte auf den Weiden kein Gras für die Wasserbüffel- und Zebuherden und auf den von Lehmdämmen gefassten Feldern kein Reis wachsen, ja wären Ackerbau und mit ihm Zivilisation, Kunst und alle Spielformen des Lebens blosse Träume geblieben im Land der Khmer.»
 

Drängendste Fragen der Gegenwart

Es ist keine grosse Interpretationsarbeit nötig, um darin ein Plädoyer für eine Literatur zu erkennen, die gerade deshalb wirkt, weil sie nicht direkt in die politische Wirklichkeit eingreifen will. Fiktion ist hier weder Abbild des Realen noch Anleitung zur Veränderung, weder Dokumentation noch Vision. Fiktion, wenn sie fruchtbar sein soll, ist Strömungsumkehr, Bedenkzeit, Möglichkeitsraum. Folgt man dem Autor, dann liegt genau darin ihre kulturstiftende Funktion.
 

Das ist vielleicht keine besonders originelle Position. Doch in Zeiten, in denen Literatur leichtfertig als Repräsentation der Wirklichkeit oder als Instrument zur Etablierung neuer symbolischer Ordnungen missverstanden wird, wirkt sie beinahe radikal. Ob man Ransmayrs kunstreiche Sprachwelten mag oder nicht, bleibt Geschmackssache, und sein Frauenbild wirkt mittlerweile recht angestaubt.
 

Doch wer sich auf Ransmayrs Fiktionen einlässt, erlebt, was Literatur und Poesie unersetzlich macht: Allein durch die gezielte Wahl von Wörtern und die raffinierte Konstruktion von Sätzen bringt uns dieser Roman dazu, uns eine andere Welt vorzustellen, in der wir drängende Probleme unserer Gegenwart spielerisch, intelligent und sogar mit Genuss reflektieren können.
 

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2021.